Kontemplation?

Kontemplation – keine Bedienungsanleitung

Kein Weg, keine Übung, keine Lehre
Nach kirchlicher Lehre ist Kontemplation die direkte Selbstmitteilung Gottes, die er einem Menschen schenkt, ohne dass dieser etwas dazu tun kann.
Wenn wir uns also klar machen, dass Kontemplation – oder mit einem deutschen Begriff
„Gottes-Schau“ oder „Gott-Einung“ gesagt – eine von Gott frei geschenkte Gabe ist, gibt es auch keinen Weg, keine Übung, keine Lehre, keine Bedienungsanleitung dafür. Es ist ein Tun Gottes, nicht des Menschen, mit der Möglichkeit, dass die unmittelbare Selbstmitteilung Gottes einen Menschen bei der profansten Verrichtung im Alltag
durchfährt. Nun könnte man sagen: Wenn die „Gottes-Schau“ also ein Tun Gottes ist und sein Geschenk, und wenn es also keinen Weg und keine Übung gibt, dann braucht es niemanden zu interessieren, dann wird es passieren oder nicht. Es gibt zwei Punkte, wann und warum der Mensch gefragt ist, sich der Kontemplation zu
stellen.
Erstens: Obwohl die unmittelbare Selbstmitteilung Gottes ganz unvorbereitet auftreten kann, so steht sie erfahrungsgemäß dann vor der Tür, wenn jemand in seiner (geistlichen) Biographie bestimmte Phasen durchlaufen hat. Es wäre dann gut für diesen Menschen, wenn er verstehen würde, was geschieht, oder wenn jemand ihm helfen könnte, zu verstehen, was vor sich geht.
Zweitens: Die „Gott-Einung“ der Kontemplation kann nicht vollzogen werden, wenn der Mensch nicht seine Zustimmung gibt. Niemand wird ungefragt erleuchtet.

Sprache verlieren
Zum erstgenannten, biographischen Punkt: Es gibt verschiedene Symptome, die anzeigen können, dass etwas anderes kommt, eine Veränderung vor sich geht. Vielleicht entlarvt sich der Glaube als ein provinzielles und rechthaberisches System, in dem einem die Bibellektüre oder das Gebet als individueller oder gar der Gottesdienst, das Singen und die Bibelgespräche als gruppenspezifischer Glaubens-Vollzug fragwürdig werden. Und dies,
obwohl man daraus vorher sehr viel Gewinn gezogen hat. Vielleicht leuchtet einem die Gleichsetzung von Christuszugehörigkeit und der Abgrenzungskultur von Gemeinde nicht mehr ein. Oder der Umgang mit Gott verliert seine gewohnte Vertrautheit und Innigkeit. Ich weiß nicht, wie typisch diese skizzierte Krise in Zukunft sein wird, denn es gibt ja inzwischen viele Menschen, die nicht vom christlichen Traditionskontinent aus auf den kontemplativen Weg gelangen. Doch auch Esoteriker und Diffus-Spirituelle müssen nachgeplapperte Wahrheiten zerstört bekommen, damit diese zu echten, das heißt durchlebten und erfahrenen, Einsichten werden können.
Mit diesen skizzierten Symptomen wird vielleicht schon deutlich, dass Kontemplation ein Transformationsprozess ist, den Gott selber einleitet und durchführt, ohne dass der Mensch etwas dazu tun kann. So erklärt sich auch, warum man sagen kann, dass es für die Kontemplation keinen Weg und keine Übung gibt. Dieser Transformationsprozess zielt auf eine unmittelbare Selbstmitteilung Gottes ab und setzt daher in Gang, dass dem Menschen seine „alte Sprache“ genommen wird: Jetzt kommt etwas, wofür es keine Sprache gibt. Die Zeit ist vorbei, sich am Geländer einer Gruppenmoral entlangzuhangeln. Die Zeit ist vorbei, in denen Gott zu einem durch Prophetien oder Bilder spricht. Die Zeit ist vorbei, in denen die Emotionen – von der kleinsten kulturell ästhetischen Regung bis zur Ekstase eines Zungengebets – einem vergewissern, dass Gott da ist. Die Zeit ist vorbei, in denen die Bibel ein verlässliches Antwort- und Trostbuch gewesen ist. Ist die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes, Gottes Weg, sich in unsere Menschenwelt zu geben und das Menschsein sich zu eigen zu machen, so ist der von Gott initiierte Prozess der Kontemplation ein Geschehen, in welcher der Mensch so geformt wird, um Gott selbst aufnehmen zu können und das Göttliche sich zu eigen machen zu lassen. Man könnte die Kontemplation vielleicht – mit einem Kunstwort – auch eine „Theoformation“ nennen, eine Transformation in Gott hinein.

Meditieren oder Zähneputzen? Meditieren und Zähneputzen!
Zum zweiten Punkt, den ich angesprochen habe: Man kann sich zwar nicht aussuchen, ob Gott den Transformationsprozess der Kontemplation ins Werk setzt oder nicht, aber man kann, wenn er es denn tut, dem zustimmen oder nicht. Und nebenbei gesagt: Was wird schon passieren, wenn man sich frei gegen die Theoformation entscheidet? Gott kann einen Menschen auch ohne die Erfahrung der Kontemplation zum Ziel führen. Es ist dann die Zustimmung des Menschen, aus der alle kontemplative Übung entspringt.
Einer der wichtigsten Lehrer des kontemplativen Transformationsprozesses, Johannes vom Kreuz (15. Jahrhundert), beschreibt detailliert und kenntnisreich diesen Prozess. Aber in seinen Schriften ist keine spezifische Übung greifbar, die diesen Prozess unterstützen könnte. Vielmehr gibt er Menschen, die in die Kontemplation wie in eine „dunkle Nacht“ gezogen werden, den Rat, sich nicht zu beunruhigen, wenn ihre gewohnten geistlichen Übungen ihnen keinen Trost mehr gäben oder sie gar keinen Geschmack mehr daran fänden. Man überlasse sich nur geduldig dem läuternden Tun Gottes. Im Übrigen solle man einfach seine Tätigkeiten weiterführen.
Erst im 20. Jahrhundert – durch die Wechselwirkung zwischen abendländisch monastischer und asiatischer Spiritualität – ist die Sitz-Meditation zur klassischen kontemplativen Übung geworden. Aber wo immer geübt wird, sich in den Transformationsprozess hinein zu begeben – da ist kontemplative Übung. Und das könnte
die ernsthafte Aufgabe sein: eine Vorstellung meines Lebensplanes loszulassen und die gegenwärtige Situation zu bejahen. Oder es könnte bedeuten, trotzdem jeden Morgen immer noch aufzustehen, auch wenn einem überhaupt nicht klar ist, wohin das Leben einen führen will. Stehe ich auf und putze meine Zähne (und das wäre dann eine Übung), gibt es wenigstens eine Chance, dass ich weitergeführt werde. Die Theoformation ist nicht irgendeine besondere Methode des Gebets neben meditativem Tanz, Atemtechnik und Zungengebet. Sie ist ernst und ein Anspruch. Es ist kein Spiel.

Augen zu und durch
Die Sitz-Meditation ist trotzdem tatsächlich geeignet, der klassische Ausdruck kontemplativer Übung zu sein. Sich hinsetzen und den Mund halten, ist ein exzellenter Ausdruck dafür, „still zu halten“, um Gott tun zu lassen. Man sagt damit, dass man „es mit sich geschehen lässt“, was immer dieser Prozess einem auferlegt. Sich hinsetzen und die Hände in den Schoß zu legen, bedeutet: Ich enthalte mich, von der Seite ins Lenkrad zu greifen und meine Kontrolle zurückzugewinnen, denn nun bin ich anderen Händen ausgeliefert. Sich hinsetzen und die Augen zu schließen, bedeutet: Alle Bilder, die ich bisher von Gott, von mir, von anderen und vom Leben hatte, werden zerstört und ich weiß nicht, was sich am Horizont zeigen wird.

Bei sich selbst wohnen statt Ego-Trip
Man wird nun vielleicht nach konkreten Methoden fragen, aber ich glaube, dass es unmöglich ist, schematische Hinweise zu geben. Vielleicht müsste man selber kreativ werden oder verstehen, dass – wie oben beschrieben – das „Trotzdem-Aufstehen-und- Zähneputzen“ schon die Übung ist. Die Theoformation ist ein Pfad, der einen dazu führen will, der zu sein, der man ist. Das kann unter Umständen bedeuten, dass man alte Heimaten verlassen muss, um aufzubrechen – wie Abraham ins Unbekannte, zu einem neuen Gott, von dem niemand je was gehört hat. Wie schmerzlich kann es sein, zu ahnen, dass das eigene Selbstbild so nicht stimmt. Wie sehr haben wir Angst vor dem, wer wir sind und wozu wir bestimmt sind! Und du fragst nach Gebets-Methoden?

Man wird auch fragen, ob der kontemplative Weg nur ein christlich getarnter Ego-Trip ist. Aber eben das soll ja offengelegt werden. Mögen wir uns doch klar machen, dass unser erster Dienst an der Gemeinschaft darin besteht, uns selbst, unsere Person, unsere Lebensumstände, unsere Freude und unsere Verzweiflung am Leben anzunehmen. Es hilft niemandem, wenn wir bloß unsere Rollen spielen: Rollen, die von Eltern oder Verwandten,
von kirchlichen oder anderen Gruppen vorgefertigt bereit stehen. Sie mögen vielleicht eine Weile tragen, aber nie bis zu unseren letzten Tagen und niemals bis zu unserem letzten Atemzug, mit dem wir uns selbst in die Hände des Todes geben. Die Theoformation hat so viel damit zu tun, dass der Mensch zur Identität mit sich selbst
geführt wird, was manchmal sehr mühsam und schmerzlich sein kann. Was würde es einem Menschen bringen, wenn Gott sich ihm unmittelbar – ohne Bilder und ohne Sprache – mitteilen will, und dieser Mensch ist nicht zu Hause bei sich selbst? Man stelle sich vor, Gott kommt und wir antworten: „Nein, nein, versuch’s mal nebenan, hier wohnt keiner. Nebenan, da findest du jemanden: mein Selbstbild, das ich mir von mir selbst gemacht und autorisiert habe, dass andere es sehen dürfen.“ Die Theoformation bereitet nicht nur den Menschen so vor, dass er Gott begegnen kann, nein, sie bereitet den Menschen auch vor, dass er (nämlich als der, der er ist) Gott begegnen kann. Gott will nicht irgendwem begegnen, sondern dem – oft gebrochenen und fragmentarischen aber
dadurch authentischen – Du.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass das zunehmende Bekanntwerden des kontemplativen Weges mit der ausgeprägten Individualisierung der westlichen Gesellschaft zusammenfällt. Die Praxis und das Ausloten dieses Weges werden aus genannten Gründen nur schwer Bindekräfte freisetzen können, um Gemeinschaft zu gestalten. Aber ist die
Deutung der Vereinzelung im Kontext des beschriebenen Transformationsprozesses nicht auch eine von vielen möglichen Antworten? Die Erfahrung der Vereinzelung ist real und sie kann durch „Gruppen-Spiele“ nicht mehr überdeckt oder gekittet werden. Aber in der Bejahung des kontemplativen Transformationsprozesses wird sie deutbar und – wenn auch mühsam – erfahrbar als Konsequenz von Gottes „Ja“ zu der Person, die ich bin.
Jemand sagte einmal zu einer erfahrenen Frau des Gebets: „Ich weiß nicht, was ich falsch mache. Andere Leute schaffen das doch auch, eine Beziehung zu pflegen und eine Familie zu gründen – oder eben in eine klösterliche Gemeinschaft einzutreten. Wieso kann ich das nicht auch hinkriegen?“ Ihre Antwort: „Weil du du bist.“ Versteht ihr? Ich hab’s verstanden.

Selber gehen
Man sagt doch immer, dass die Erfahrung, die „Wonne“ solcher begrifflosen Gott-Innigkeit gar nicht beschreibbar ist. Aber mir macht eher Sorge, dass ich nicht beschreiben kann, was für ausweglose und unerträgliche Situationen man durchstehen muss, wenn man der Theoformation zustimmt. Wer sich bis hierher nicht abschrecken ließ, wird dann wohl fragen: „Was nun?“ Ich weiß es nicht. Vielleicht willst du erst einmal mehr „wissen“. Der Entwicklungsprozess vom „Weg des Glaubens“ zum „Weg der Kontemplation“ wird sehr konzentriert und einfühlsam von Franz Jalics in seinem Buch „Der kontemplative Weg“ behandelt. Jedes der fünfzehn kurzen Kapitel wird mit einer Frage abgeschlossen, so dass man als Leser mit den Darlegungen und Überlegungen ins Gespräch kommen kann.
Vielleicht willst du aber auch erfahren, was es mit der Übung der Sitz-Meditation auf sich hat, weil Zähneputzen dir ziemlich albern und gar nicht „kontemplativ“ vorkommt. Dann sage ich dir: Putz bitte trotzdem deine Zähne. Wenn du Sitz-Meditation lernen willst, melde dich bei kontemplativen Exerzitien an.
Vielleicht willst du Gebet als „schweigendes Verweilen bei Gott“ lernen, traust dich aber nicht, in ein Exerzitienhaus zu fahren. Dann kann ich dir empfehlen, das Buch „Kontemplative Exerzitien. Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und in das Jesusgebet“ von Franz Jalics anzuschaffen. Ihm ist mit diesem Buch etwas
Außergewöhnliches gelungen: Sollte man aus irgendwelchen Gründen keinen Lehrer finden oder einen Ort, an dem man eine kontemplative Haltung einüben kann, dann findet man in diesem Buch einen Begleiter. Es ist ein Arbeitsbuch, mit dem man über ein ganzes Jahr lang zu Hause üben kann. Auch kann es Leuten, die kontemplative Exerzitien schon kennen und zu Hause weiter üben, immer wieder in Erinnerung rufen, worauf es ankommt.

Hier bin ich
Mit den eben genannten Hilfen kannst du schon gute Schritte gehen und den Weg finden. Vielleicht hast du aber auch schon von allein, ohne methodisches Wissen, erlebt, was es bedeuten könnte, Gott machen zu lassen, wenn er dich in einen Transformationsprozess zieht. Wiederholen wir: Der Mensch kann nichts dafür tun. Er kann nur dem Prozess zustimmen (oder nicht). Und so ist das, was man gemeinhin „kontemplatives Gebet“ nennt, vom Wesen her eine Übung des Zustimmens. Deshalb hören wir bei dieser Art des Betens auf, Gott um konkrete Dinge zu bitten oder über „geistliche Dinge“ nachzudenken. Die innere und äußere Haltung sind die eines absichtslosen Verweilens bei Gott oder dem, was ist. Denn das, was gegenwärtig ist, das könnte gerade genau das sein, was Gott dir
schenken will, oder er will es dafür benutzen, um dich zu verwandeln. Stören dich Außengeräusche: Lasse sie zu und nimm sie wahr, ohne dem Impuls nachzugeben, die Situation zu verändern. Fühlst du eine innere Unruhe, weil du von Gedanken abgelenkt wirst: Lasse sie zu und nimm sie wahr, ohne sie mit deiner Willenskraft wegdrücken zu
wollen. Und immer wieder: Kehre zurück zu deiner Intention, absichtslos und im Schweigen bei dem zu verweilen, was ist. Und lass dich damit trösten, dass jetzt nicht die Zeit ist, etwas zu tun und einzugreifen.
Bei den Geschichten in der Bibel, in denen Gott Menschen anspricht, gibt es oft diese markante Antwort des von Gott Angerufenen: „Hier bin ich.“ Für die Zeit, die du dir vornimmst, das „Gebet der Zustimmung“ zu üben, reicht es vollkommen aus, diese Haltung zu haben: „Hier bin ich. Ich bin aufmerksam. Ich bin achtsam für das, was ist.
Hier bin ich. Ich stehe zur Verfügung.“ Allein diese Haltung des Zur-Verfügung-Stehens, des Bereitseins für das, was ist, reicht aus. In den Worten von Johannes vom Kreuz (Aufstieg auf den Berg Karmel, 2. Buch, Kapitel
15, Abschnitt 5):
„So möge der spirituelle Mensch lernen, in liebender Achtsamkeit mit beruhigtem Verstand bei Gott zu verweilen, sobald er nicht mehr [diskursiv] meditieren kann, auch wenn es ihm vorkomme, als täte er nichts, denn so wird nach und nach, aber sehr schnell mit wunderbaren und erhabenen und von göttlicher Liebe umschlossenen Einsichten in Gott die Ruhe und der Frieden Gottes in seine Seele eingegossen. Er soll sich nicht auf
Formen, [diskursiven] Meditationen und Vorstellungen oder irgendeinen Gedankengang einlassen, um die Seele nicht zu beunruhigen und aus ihrer Zufriedenheit und dem Frieden herauszuholen, was ihr nur Unlust und Widerwillen verschaffte. Und wenn ihm, wie wir gesagt haben, Gewissensbisse kämen, weil er nichts tut, so bedenke er, dass er nicht wenig tut, wenn er die Seele befriedet und in Ruhe und Frieden versetzt, ohne irgendein Machen
oder Streben.“

Möge Gott uns zum Ziel führen – so wie er will.

Yotin Tiewtrakul

(Erschienen in: „Beziehungsweise Leben“, Marburg 2009)